Libby Gant schwamm den steilen Unterwassertunnel hinauf. Es war ruhig hier, dachte sie, friedlich. Die ganze Welt war blassblau getönt.
Beim Schwimmen vernahm Gant nichts außer dem leisen, rhythmischen Zischen ihres Kreislaufatemgeräts. Es gab keine weiteren Geräusche - kein Pfeifgeräusch, kein Walgesang, kein gar nichts.
Gant starrte durch ihre Vollmaske hinaus. Im Schein ihrer Halogentaucherlampe glühten die Eiswände des Tunnels geisterhaft bläulich-weiß. Die übrigen Taucher Montana, Santa Cruz und die Wissenschaftlerin, Sarah Hensleigh -schwammen lautlos neben ihr dahin.
Ganz plötzlich verbreiterte sich der Eistunnel dramatisch und Gant sah zu beiden Seiten mehrere runde Löcher in den Wänden.
Sie waren größer, als Gant erwartet hatte - gut und gern drei Meter im Durchmesser. Und sie waren rund, vollkommen rund. Gant zählt acht derartige Löcher und überlegte, welche Tierart sie möglicherweise gemacht haben könnte.
Und dann vergaß Gant abrupt die Löcher in den Eiswänden. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.
Die Oberfläche.
Gant schaltete ihr Funkgerät ein. »Scarecrow. Fox hier«, sagte sie. »Scarecrow. Hier ist Fox. Scarecrow, sind Sie da draußen?«
Es erfolgte keine Antwort.
»Scarecrow, ich wiederhole, Fox hier. Bitte kommen!« Immer noch keine Antwort.
Das war merkwürdig, dachte Gant. Warum sollte Scarecrow ihr nicht antworten? Sie hatte erst vor wenigen Minuten mit ihm gesprochen.
Plötzlich tönte knisternd eine Stimme in Gants Ohrhörer.
Es war nicht Schofield.
»Fox, Rebound hier.« Er schrie anscheinend
über den Wind hinweg. Er musste sich außerhalb der Station
aufhalten. »Ich empfange dich. Was ist
los?«
»Wir nähern uns jetzt der Oberfläche«, erwiderte Gant. »Wo ist Scarecrow?«, fügte sie ein wenig zu rasch hinzu.
»Er ist irgendwo innerhalb der Station. Unten bei Mother, glaube ich. muss seinen Helm abgenommen haben oder so.«
»Nun«, sagte Gant, »könnte vielleicht eine gute Idee sein, ihn zu suchen und ihm mitzuteilen, was hier unten abgeht. Wir sind dabei, innerhalb der Höhle aufzutauchen.«
»Verstanden, Fox.«
Gant schaltete ihr Funkgerät ab und schwamm wieder aufwärts. Von unten wirkte die Wasseroberfläche seltsam.
Sie war gläsern. Still. Sie wirkte wie irgendwelche gekrümmte Linsen, die völlig das Abbild dessen verzerrten, was jenseits davon liegen mochte.
Gant schwamm darauf zu. Die anderen stiegen lautlos mit ihr im Wasser auf.
Gemeinsam durchbrachen sie die Oberfläche.
In einem Augenblick veränderte sich Welt um Gant, und sie fand sich wassertretend inmitten eines gewaltigen Teichs wieder, der am einen Ende einer massiven unterirdischen Höhle lag. Sie sah Montana und Santa Cruz im Wasser neben sich schweben, Sarah Hensleigh hinter ihnen.
Die Höhle war absolut riesig. Ihre Decke war gut und gern über dreißig Meter hoch und ihre Wände erstreckten sich so weit in die Ferne, dass die entferntesten Ausläufer der Höhle in Dunkelheit gehüllt waren, außer Reichweite des harten, lumineszierenden Glanzes der starken Halogenlampen der Marines.
Und dann sah es Gant.
»Verdammt soll ich sein...«, hörte sie Santa Cruz sagen.
Eine volle Minute lang konnte Gant nichts weiter tun als hinstarren. Langsam schwamm sie zum Rand des Teichs. Als sie schließlich festen Boden betrat, war sie völlig bezaubert. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden.
Es sah aus wie nichts, was sie je zuvor gesehen hatte. Wie etwas aus einem Film. Der bloße Anblick beraubte sie ihres Atems.
Es war eine Art Schiff.
Ein schwarzes Schiff-völlig schwarz von der Spitze bis zum Schwanz - von etwa derselben Größe wie ein Kampfjet. Gant sah, dass seine gewaltigen Schwanzflossen in der Eiswand dahinter eingebettet waren. Es sah aus, als ob sie vom Eis verzehrt worden wären, während es über die Äonen hinweg langsam darüber gekrochen war.
Das riesige schwarze Raumschiff stand einfach da - in absolutem Kontrast zu der kalten weißen Höhle darum -, hoch aufragend auf drei mächtig wirkenden, hydraulischen Landestützen.
Es sah phantastisch aus, jenseitig.
Und es wirkte bösartig.
Schwarz und zugespitzt, schlank und scharf. Auf Gant wirkte es wie eine riesige Gottesanbeterin. Seine beiden schwarzen Flügel schwangen sich zu beiden Seiten seines Rumpfs herab, sodass es wie ein fliegender Vogel wirkte, dessen Flügel an seiner untersten Extremität befestigt waren.
Das überraschendste Teil von allen war jedoch die Nase.
Das Schiff hatte eine Hakennase, eine Nase, die scharf nach unten zeigte, wie die Nase der Concorde. Das Cockpit - eine rechteckige Kanzel aus gefärbtem, verstärkten Glas - lag unmittelbar über der Hakennase.
Eine riesige Gottesanbeterin, dachte Gant. Die Schlankste, schnellste - größte Gottesanbeterin, die jemals jemand zu Gesicht bekommen hat.
Gant bemerkte, dass die anderen ebenfalls aus dem Wasser gekommen waren und jetzt neben ihr auf dem eisbedeckten Boden der Höhle standen und auch zu dem prächtigen Raumschiff hinaufstarrten.
Gant sah ihren Gefährten ins Gesicht.
Santa Cruz stand der Mund sperrangelweit offen.
Montana hatte große Augen.
Sarah Hensleighs Reaktion jedoch empfand Gant als merkwürdig. Hensleigh hatte die Augen zusammengekniffen und sie starrte auf ungewöhnliche Weise zu dem Raumschiff hinauf. Gegen ihren Willen verspürte Gant eine jähe Eiseskälte. Sarah Hensleighs Augen glühten vor etwas, das so gefährlich wirkte wie Ehrgeiz.
Gant schüttelte den Gedanken ab, und da der ursprüngliche Bann des Raumschiffs nun gebrochen war, erfasste ihr Blick jetzt den Rest der riesigen Höhle.
Sie benötigte volle zehn Sekunden, bis sie sie sah.
Gant erstarrte sofort.
»Oh, Gott...«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Oh, Gott...«
Es waren neun. Leichen.
Menschliche Leichname, obwohl sie anfangs schwer zu erkennen waren.
Sie lagen auf der anderen Seite des Teichs auf dem Boden -einige flach auf dem Rücken, andere über große Felsen am Rand des Teichs drapiert. Überall war Blut. In Lachen auf dem Boden, gegen die Wände verspritzt, auf den Leichen selbst.
Ein Blutbad.
Gliedmaßen waren herausgerissen worden. Köpfe von Schulter gedreht. Einigen Leichen waren kreisrunde Fleischbrocken aus der Brust gerissen worden. Über den ganzen Boden verteilt lagen Knochen, einige davon zersplittert, an anderen klebten noch immer Fleischfetzen.
Gant schluckte heftig und bekämpfte verzweifelt den Drang, sich zu übergeben.
Die Taucher aus der Station, dachte sie.
Santa Cruz trat neben Gant und starrte die verstümmelten Leichen auf der anderen Seite des Teichs an.
»Was zum Teufel ist denn hier unten passiert?«, fragte er.
Schofield träumte.
Zunächst war da nichts. Nichts außer Schwärze. Es war, als würde er im Weltraum treiben.
Und dann ganz plötzlich - Zack! - zerschmetterte ein glühendes Weiß Schofields ureigenste Existenz, ließ ihn sich aufbäumen wie von einem elektrischen Schlag und Schofield verspürte einen sengenden Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte.
Und dann, ebenso plötzlich, wie er gekommen war, verschwand der Schlag und Schofield merkte, dass er irgendwo auf dem Boden lag - kalt und allein, schlafend, und doch wach.
Es war dunkel. Es gab keine Wände.
Schofield verspürte Feuchtigkeit auf der Wange.
Es war ein Hund. Ein großer Hund. Schofield konnte nicht sagen, von welcher Rasse. Er konnte bloß sagen, dass er groß war. Sehr, sehr groß.
Der Hund schnüffelte an seiner Wange, schnüffelte fordernd. Seine kalte, feuchte Schnauze streifte ihm übers Gesicht. Seine Barthaare kitzelten ihn in der Nase.
Er wirkte neugierig, ganz und gar nicht bedrohlich...
Und dann bellte der Hund jäh. Verteufelt laut.
Schofield vollführte einen Satz. Der Hund bellte jetzt wie wahnsinnig einen unsichtbaren Feind an. Er wirkte unmöglich wütend - wild, aufgebracht - und bleckte die Zähne diesem neuen Feind entgegen.
Schofield lag weiterhin auf dem kalten Boden des wandlosen Raums, außerstande - oder einfach nicht willens -, sich zu rühren. Und dann, nach und nach, nahmen die Wände rings um ihn her Gestalt an, und bald merkte Schofield, dass er auf dem Metall von Deck E lag.
Der große Hund stand noch immer über ihm, bellte wild und knurrte. Der Hund verteidigte ihn offenbar.
Aber wovor? Was sah er, das er nicht sehen konnte?
Und dann wandte sich der Hund jäh ab und lief davon und Schofield lag allein auf dem kalten stählernen Deck.
Schlafend, und doch wach, außerstande, sich zu rühren, fühlte Schofield sich verwundbar. Exponiert.
Etwas kam auf ihn zu.
Es kam aus Richtung seiner Füße. Er konnte es nicht erkennen, doch er hörte seine Schritte, wie sie - langsam, einer nach dem anderen - auf dem kalten stählernen Deck klangen.
Und dann war es plötzlich über ihm und Schofield sah ein böses, lächelndes Gesicht über sich auftauchen.
Es war Jacques Latissier.
Sein Gesicht war blutbedeckt, verzerrt zu einem obszönen, hämischen Grinsen. Abgerissene Fleischfetzen hingen lose von einer offenen Wunde auf seiner Stirn herab. Seine Augen lebten, brannten vor Hass. Der französische Soldat hob sein glitzerndes Messer, sodass es unmittelbar vor Schofields Augen war.
Und dann senkte er das Messer in einem heftigen Stoß nach unten...
»Hee«, sagte jemand sanft.
Schofield riss die Augen auf und erwachte aus einem Traum.
Er lag auf dem Rücken. In irgendeinem Bett. In einem Zimmer mit weißen Neonröhren, die ihn ganz benommen machten. Die Wände waren ebenfalls weiß und bestanden aus Eis.
Ein Mann stand über ihm.
Es war ein kleiner Mann, etwa einssechzig groß. Schofield hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
Der Mann war gedrungen und drahtig, und er hatte zwei riesige blaue Augen, die viel zu groß für den kleinen Kopf wirkten. Große schwarze Tränensäcke hingen unter beiden Augen. Er hatte verwuseltes braunes Haar, das aussah, als ob es schon seit Monaten nicht
mehr gekämmt worden wäre, und zwei riesige Vorderzähne, die entsetzlich schief standen. Er trug ein billiges T-Shirt und blaue Polyesterhosen; eigentlich wirkte er viel zu leicht gekleidet für die nahezu am Nullpunkt liegenden Temperaturen der Eisstation Wilkes.
Und er hielt etwas in der Hand.
Ein Skalpell mit langer Klinge.
Schofield starrte es an.
Auf dem Skalpell war Blut.
Der Mann sprach mit gleichmütiger, nasaler Stimme. »Hee. Sie sind wach.«
Schofield kniff die Augen im Licht zusammen und versuchte, sich im Bett aufzusetzen. Es gelang ihm nicht. Etwas hielt ihn fest. Er sah, was es war.
Zwei Lederriemen banden ihm die Arme zu beiden Seiten des Betts fest. Zwei weitere Riemen die Beine. Als Schofield versuchte, den Kopf zu heben, um seine Lage genauer zu untersuchen, entdeckte er, dass ihm nicht einmal das gelingen wollte. Der Kopf war gleichfalls fest ans Bett gebunden.
Schofield erstarrte sogleich das Blut in den Adern.
Er war vollständig gefesselt.
»Warten Sie nur eine Minute«, sagte der kleine Mann mit seiner irritierenden nasalen Stimme. »Das wird nur noch eine... weitere... Sekunde benötigen.«
Er hob das blutige Skalpell und verschwand aus Schofields Blickfeld.
»Warten Sie!«, sagte Schofield rasch.
Sofort kehrte der kleine Mann in Schofields Blickfeld zurück. Er hob fragend die Brauen. »Ja?«
»Wo - wo bin ich?«, fragte Schofield. Das Reden schmerzte. Seine Kehle war wie Pergament, trocken.
Der Mann lächelte und zeigte dabei die krummen Schneidezähne. »Schon in Ordnung, Lieutenant«, meinte er.
»Sie sind noch immer auf der Eisstation Wilkes.«
Schofield schluckte. »Wer sind Sie?«
»Nun, Lieutenant Schofield«, erwiderte der Mann. »Ich bin James Renshaw.«
»Willkommen zurück aus dem Grab, Lieutenant«, sagte Renshaw, während er den Lederriemen um Schofields Kopf löste. Renshaw hatte gerade mit seinem Skalpell die letzten drei Kugelfragmente aus Schofields Hals herausgeholt.
»Wissen Sie«, sagte Renshaw, »Sie haben sehr viel Glück gehabt, dass Sie diese Kevlarplatte in Ihrem Kragen hatten. Sie hat die Kugel nicht völlig aufgehalten, aber ihr den größten Teil ihrer Geschwindigkeit genommen.«
Renshaw hielt den runden Kevlareinsatz hoch, der zuvor in Schofields grauem Rollkragen gesteckt hatte. Schofield hatte seinen Halsschutz völlig vergessen gehabt. Für ihn war dieser einfach ein weiteres Teil seiner Uniform. Mit Kevlar-Halsschutz wurden ausschließlich Marineoffiziere ausgestattet, ein zusätzlicher Schutz gegen Heckenschützen. Einfache Soldaten erhielten keinen solchen Schutz, da feindlichen Heckenschützen Corporals und Sergeants meist ziemlich gleichgültig sind.
Da der Lederriemen um seine Stirn jetzt gelöst war, hob Schofield den Kopf und sah sich den Kevlareinsatz an, den Renshaw in der Hand hielt.
Er sah aus wie der weiße Kragen eines Priesters - rund und flach, so geformt, dass er den Hals des Trägers umschloss, während er in seinem Rollkragen verborgen blieb. Auf einer Seite des runden Kevlareinsatzes sah Schofield ein ausgefranstes, klaffendes Loch.
Das Einschussloch.
»Diese Kugel hätte Sie gewiss getötet, wenn Sie nicht Ihren Einsatz getragen hätten«, sagte Renshaw. »Hätte direkt Ihre Halsschlagader durchschlagen. Danach hätte niemand mehr etwas für Sie tun können. Dabei ist die Kugel zerschmettert, als sie durch Ihren Kevlareinsatz gefahren ist, also sind lediglich einige kleine Splitter in Ihren Hals gedrungen. Dennoch hätte das ausgereicht, Sie zu töten, und eigentlich bin ich der Ansicht, sie hat es kurzzeitig auch getan.« Schofield hörte nicht weiter zu. Er nahm das Zimmer ringsumher in sich auf. Es sah aus wie jemandes Wohnbereich. Schofield erblickte ein Bett, einen Schreibtisch, einen Computer und seltsamerweise zwei Schwarzweiß- Fernsehmonitore, die auf zwei Videorekordern standen.
Er wandte sich an Renshaw. »Hm?«
»Mehrere Splitter der Kugel sind in Ihren Hals eingedrungen, Lieutenant. Ich bin mir ziemlich sicher - eigentlich absolut sicher -, dass Sie für wenigstens dreißig Sekunden lang keinen Puls mehr hatten. Sie waren klinisch tot.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Schofield. Instinktiv hob er die Hand im Versuch, seinen Hals zu betasten. Aber er konnte den Arm nicht bewegen. Arme und Beine waren noch immer fest ans Bett gefesselt.
»Oh, keine Sorge, ich hab's repariert«, meinte Renshaw. »Ich habe die Geschoßsplitter herausgeholt und die Wunde gesäubert. Eigentlich haben Sie auch noch ein paar Kevlarsplitter da drin, aber die waren kein Problem. Ich hatte gerade versucht, sie herauszuholen, da sind Sie aufgewacht.« Renshaw zeigte auf das blutige Skalpell auf einem Silbertablett gleich neben Schofields Bett. Neben dem Skalpell lagen sieben winzige Metallsplitter, alle mit Blut befleckt.
»Oh, und machen Sie sich keine Sorgen um meine Qualifikation«, sagte Renshaw lächelnd. »Ich habe zwei Jahre Medizin studiert, ehe ich das sein gelassen und mit Geophysik angefangen habe.«
»Werden Sie mich losbinden?«, fragte Schofield gleichmütig.
»Oh, ja. Stimmt. Hören Sie, tut mir schrecklich Leid, das da«, erwiderte Renshaw. Er wirkte jetzt nervös. »Zunächst musste ich Ihren Kopf ruhig halten, während ich die Geschoßsplitter aus Ihrem Hals holte. Haben Sie gewusst, dass Sie sich im Schlaf hin- und hergeworfen haben? Vielleicht nicht. Nun, Sie haben es getan. Aber wie dem auch sei, und um nicht länger drum herum zu reden, habe ich mir gedacht, da ich Ihnen so viel zu erzählen habe und so, wäre es besser, wenn Sie ein, nun ja, gefesseltes Publikum wären. Sozusagen.« Renshaw lächelte schwach über sein Bonmot.
Schofield starrte ihn an. Er war sich nicht sicher, was er von diesem Mann mit Namen James Renshaw zu halten hatte. Schließlich war er der Mann, der nur eine Woche zuvor einen seiner Wissenschaftlerkollegen umgebracht hatte. Wenn sonst auch nichts, so war Schofield sich eines gewiss. Er wollte nicht gefesselt und der Gnade dieses Mannes ausgeliefert bleiben.
»Was haben Sie mir zu sagen?«, fragte Schofield. Er durchsuchte beim Sprechen mit dem Blick das Zimmer. Die Tür auf der anderen Seite war fest verschlossen. Alle übrigen Wände des Zimmers bestanden aus Eis.
»Lieutenant, was ich Ihnen zu sagen habe, ist dies: ich bin kein Mörder. Ich habe Bernie Olson nicht umgebracht.«
Schofield sagte kein Wort.
Er versuchte, sich daran zu erinnern, was Sarah Hensleigh ihm zuvor - damals, bei seiner Ankunft in Wilkes - über den Tod des Wissenschaftlers Bernard Olson gesagt hatte.
Sarah hatte gesagt, dass in der Nacht, da Olson umgebracht worden war, Renshaw eine lautstarke Auseinandersetzung mit Olson gehabt hatte. Nach dieser Auseinandersetzung hatte Renshaw Olson mit einer Subkutanspritze, gefüllt mit flüssigem Abflussreiniger, in die Kehle gestochen. Dann hatte er den Inhalt der Spritze in Olsons Blutkreislauf injiziert. Bald darauf hatten die übrigen Bewohner von Wilkes Olson tot aufgefunden. Die Spritze hatte ihm lose vom Hals herabgebaumelt.
»Glauben Sie mir?«, fragte Renshaw unterdrückt, wobei er Schofield argwöhnisch beäugte.
Schofield sagte noch immer kein Wort.
»Lieutenant, Sie müssen mir glauben. Ich kann mir lediglich vorstellen, was man Ihnen gesagt hat, und ich weiß, es muss schlimm aussehen, aber Sie müssen mir zuhören. Ich hab's nicht getan. Ich schwöre, dass ich es nicht getan habe. So etwas könnte ich nie tun.«
Renshaw holte tief Luft und sprach jetzt langsam.
»Lieutenant, diese Station ist nicht das, was sie zu sein scheint. Dinge sind hier geschehen - merkwürdige Dinge -, lange bevor Sie und Ihre Männer hergekommen sind. Sie können niemandem in dieser Station vertrauen, Lieutenant.«
»Aber Sie erwarten, dass ich Ihnen vertraue?«, fragte Schofield.
»Ja. Ja, das tue ich«, erwiderte Renshaw nachdenklich. »Und das ergibt offensichtlich ein Problem, nicht wahr? Schließlich habe ich, soweit es Sie angeht, vor vier Tagen einen Mann mit einer Subkutanspritze umgebracht, die mit starkem Abflussreiniger gefüllt war. Stimmt's? Hmmm.« Renshaw trat einen Schritt auf Schofield zu. »Aber ich habe die Absicht, diese Situation richtig zu stellen, Lieutenant Schofield. Endgültig. Deswegen... tue ich dies.«
Renshaw stand gleich neben dem Bett und sah aus großer Höhe mit hartem Blick auf Schofield herab.
Schofield spannte sich an. Er war völlig hilflos. Er hatte keine Ahnung, was Renshaw zu tun beabsichtigte... Schnapp! Der Lederriemen um Schofields linken Arm wurde plötzlich schlaff und fiel zu Boden. Eine Sekunde später tat der Riemen um den rechten Arm das Gleiche.
Schofield hatte wieder die Arme frei. Renshaw hatte die Lederriemen gelöst, die sie ans Bett gefesselt hatten.
Schofield setzte sich, als Renshaw weiter nach unten ans Bett trat und die Klammern löste, die die Riemen um die Beine festhielten.
Einen langen Augenblick sah Schofield Renshaw nur an. Schließlich sagte er: »Vielen Dank.«
»Danken Sie mir nicht, Lieutenant«, erwiderte Renshaw.
»Glauben Sie mir. Und versprechen Sie mir dies: Versprechen Sie mir, dass Sie sich, wenn das alles vorüber ist, Bernie Olsons Leichnam ansehen. Sehen Sie sich die Zunge und
die Augen an. Sie werden alles erklären. Sie sind meine einzige Hoffnung, Lieutenant. Sie sind die einzige Person, die meine Unschuld beweisen kann.«
Da er sich jetzt wieder frei bewegen konnte, setzte sich Schofield im Bett auf. Er berührte seinen Hals, der schmerzhaft pochte. Er sah sich die Kehle in einem Spiegel in der Nähe an. Renshaw hatte die Verletzung gut vernäht.
Sauber, enge Stiche.
Renshaw bot Schofield ein rechteckiges Stück selbsthaftender Gaze an. »Hier. Legen Sie das über die Stiche. Es wird wie ein Verband wirken und die Verletzung fest geschlossen halten.«
Schofield nahm die selbsthaftende Gaze entgegen und legte sie fest über die Verletzung an seinem Hals. Er sah auf seinen restlichen Körper hinab. Renshaw hatten den größten Teil seines Körperschutzes entfernt - er trug lediglich noch seine Tarnkleidung mit dem grauen Rollkragenhemd darunter. Er trug noch immer seine Stiefel und die zerschlagenen Knöchel-/ Knieschoner. Seine Waffen - seine Pistole, sein Messer, seine MP5 und sein Maghook - sowie seine silberfarbene verspiegelte Brille lagen auf einem Tisch auf der anderen Seite des Raums.
Schofield blickte erneut auf die verschlossene Tür des Raums, und etwas zupfte an seiner Erinnerung. Ihm fiel ein, dass man ihm gesagt hatte, diese Tür zu Renshaws Zimmer wäre versiegelt worden, von Renshaws Wissenschaftler-Kollegen am Türrahmen vernietet. Aber ihm fiel noch etwas anderes ein, etwas, das jemand nur Augenblicke bevor er niedergeschossen worden war, gesagt hatte. Etwas davon, dass Renshaws Tür aufgebrochen worden war...
Auf einmal fragte Schofield: »Wie bin ich hierher gekommen?«
»Oh, ganz einfach. Ich habe Ihren Körper einfach in den Lastenaufzug gestopft und ihn zu dieser Ebene hochgeschickt«, erwiderte Renshaw.
»Nein, ich meine, ich habe gedacht, Sie seien in diesem Zimmer eingeschlossen? Wie sind Sie rausgekommen?«
Renshaw lächelte Schofield verschlagen an. »Nennen Sie mich einfach Harry Houdini.«
Renshaw ging zur anderen Seite des Zimmers und stellte sich vor die beiden Fernsehmonitore. »Machen Sie sich keine Sorgen, Lieutenant. In einer Minute werde ich Ihnen zeigen, wie ich hier rausgekommen bin. Zunächst jedoch habe ich hier etwas, das Sie bestimmt sehen möchten.« »Was?«
Renshaw lächelte erneut. Dasselbe verschlagene Lächeln wie zuvor.
»Wie würde es Ihnen gefallen, den Mann zu sehen, der Sie niedergeschossen hat?«, fragte er.
Einen langen Augenblick starrte Schofield Renshaw an.
Dann schwang er langsam die Beine vom Bett. Sein Hals schmerzte, und er hatte mächtige Kopfschmerzen von der Gehirnerschütterung. Zaghaft durchquerte Schofield das Zimmer und stellte sich neben Renshaw vor die beiden Fernsehmonitore.
»Ist Ihnen nicht kalt?«, fragte Schofield, wobei er Renshaws ziemlich leichte Bekleidung ansah.
Renshaw öffnete sein Hemd im Superman-Stil und zeigte eine blaue Unterwäsche, die ähnlich wie ein Kälteschutzanzug aussah. »Neoprenanzug«, sagte er stolz. »Sie benutzen die in einem Shuttle für Weltraumspaziergänge und dergleichen. Es könnte hundert Grad minus hier drin sein und ich würde es gar nicht bemerken.«
Renshaw schaltete einen der Monitore ein und ein Schwarzweißbild erschien auf dem Schirm.
Das Bild war körnig, doch nach wenigen Sekunden wurde Schofield klar, worauf er da blickte.
Es war die Ansicht des Tümpels an der Basis der Eisstation. Jedoch aus einem merkwürdigen Blickwinkel - aufgenommen irgendwo von oben -, und man blickte direkt hinab auf einen Teil des Tümpels und das umgebende Deck.
»Das ist eine Live-Aufnahme«, erklärte Renshaw. »Sie stammt von einer Kamera, die an der Unterseite der Brücke angebracht ist, die Deck C überspannt. Sie blickt gerade hinab auf den Tümpel.«
Schofield sah mit zusammengekniffenen Augen zum Schwarzweißbild auf dem Schirm.
»Die Wissenschaftler, die in dieser Station arbeiten«, sagte Renshaw, »werden alle sechs Monate abgelöst, so dass wir jeweils das Zimmer eines anderen erben. Der Kerl, der dieses Zimmer vor mir hatte, war ein verrückter alter Meeresbiologe aus Neuseeland. Seltsamer Typ. Er hatte einfach eine Liebe zu Killerwalen gefasst, konnte nicht genug von denen kriegen. Gott, er hat sie stundenlang beobachtet, hat sie beobachtet, wenn sie zum Luftholen innerhalb der Station aufgetaucht sind. Hat ihnen Namen gegeben und alles. Gott, wie hieß er doch gleich... Carmine irgendwas.
Nun ja, wie dem auch sei, der alte Carmine hat eine Kamera an der Unterseite der Brücke angebracht - so dass er von seinem Zimmer aus ein Auge auf den Tümpel halten konnte. Wenn er sie auf seinem Monitor gesehen hat, ist er runter auf Deck E geeilt und hat sie aus der Nähe beobachtet. Teufel, manchmal hat der alte Schweinehund sie aus dem Innern der Taucherglocke beobachtet, so dass er richtig nah an sie rankam.«
Renshaw sah Schofield an und lachte. »Ich schätze mal, Sie sind die letzte Person auf der Welt, mit der ich darüber sprechen sollte, wie es ist, Killerwale aus der Nähe zu beobachten.«
Schofield wandte sich ab, da ihm der schreckliche Kampf mit den Killerwalen vor kurzem einfiel. »Sie haben das alles mitbekommen?«